irina’s brief an maman

Liebe Maman,

Alles fing damit an, dass ich an einem Freitag im Servitenviertel von dem leuchtenden Rot frischer Tomaten angezogen wurde. Der junge Mann mit kornblumenblauen Augen sagte, dass man nichts kaufen kann. Wie bitte? Zuerst müsse man sich anmelden. Er war aber trotzdem so nett und hat mir ein paar mitgegeben. Zuhause feierte ich ein Tomatenfest.

Am nächsten Freitag war ich schon im Club. Von einem schönen Paar mit den melodischen Namen Gundel und Peter bekam ich Taschen sowie Erklärungen über die verschiedenen Sorten Gemüse, die es zu holen gab. Zuhause feierte ich ein Erntedankfest.

Am Sonntag folgte ich der Einladung zur Feldvernissage. Das schöne Paar zeigte ihre fruchtbaren Felder. Was für Menschen das sind, möchtest Du wissen? Sie erzählen, dass sie zu zweit im Labyrinth der grauesten und kargesten Betonwüste (sogar da? gerade erst da?) seltene Dahlien gefunden haben. Dahlien, deren offene Blüten sich an Bienen richten und ihnen den Weg zur inneren Süße leicht machen, solche, deren Schönheit vor allem in der Gruppe erstrahlt. Davon haben sie von ihrer Reise viele Samen nach Hause gebracht.

Bis jetzt alles nett, wirst Du Dir denken. Nun haben die drei am nächsten Freitag einen Aufruf zur Hilfe für die Erdäpfelernte gesendet, dem ich gefolgt bin, teils aus Neugier, teils weil Du mich gut erzogen hast. Ha, ha!

Nun – ein grauer Dienstag. Es fing schon damit an, dass ich Frühestmorgens den jungen Mann – namens Lelio – am Westbahnhof treffen musste. Dazu sage ich nur: Die Sonne ging erst auf – wenn man großzügig misst. In Hasendorf angekommen, war alles grau und windig. Zur Motivation bekamen wir Kaffee – mit Sahne, was ich kalorienbewusst sehr vorsichtig kostete. Dann ging es auf den Hügel. Mir wurden Gott sei Dank Handschuhe gegeben, denn bald musste ich – mit meinen feinen Händen – aus der Erde – Erdäpfel holen. Wie das gehen soll, fragst Du Dich? Ja, erstens muss man sich bücken und in der Erde graben, sehr anstrengend und mühsam. Mein Rücken tat weh, meine Fingerkuppen taten weh, meine Beine taten weh. Dazu kommt: Ein Kübel voller Kartoffeln wiegt 15 kg. Kannst Du Dir das vorstellen? Ich auch kaum, obwohl ich den selbst gefüllt und getragen habe. (Ich wollte zählen, wie oft, habe es aber in meiner Not vergessen.) Als ich dann erleichtert aufatmete, weil wir die zwei oder drei Reihen am Hügel fertig hatten, musste ich dann enttäscht feststellen, dass dies nur der Anfang eines langen Tages im Angesicht der Erde werden sollte. Denn auf dem anderen Acker waren weitere unendlich lange Reihen zu ernten. Zudem fing es auch immer wieder leicht zu regnen an und die feuchte Erde machte die Arbeit nur noch schwieriger. Der einzige Trost war die gelbe Farbe der Erdäpfel, die dann durch die Erdklumpen durchschimmerte. Ich frierte schon sehr und war inzwischen sehr zittrig. Als ich dann nun wirklich gar nicht mehr konnte, mussten wir trotzdem noch zwei weitere Reihen ernten! Mit einem leisen Triumph sagte ich Lelio, dass wir heute wohl viel schaffen, worauf er nur mit den Schultern zuckte. Weitere 28 Reihen seien noch zu bearbeiten. Dieses Wühlen ist wirklich keine Arbeit für eine Dame wie mich, sagte ich mir, um nicht gleich zu weinen.

Dann wurden wir endlich zum Mittagessen gerufen. Auf einem cyanblauen Tisch traten die Farben der verschiedenen Gemüsegerichte nochmal stärker hervor: Es gab violetten Rote Beete Salat, eine ziegelrote Wokpfanne voller rot-gelber Paprikastreifen, dazu weißgrünen Kohlsalat, goldenen Quinoa und orangenfarbenen Kürbis aus dem Ofen. Dazu ein großes Glas mit weißer crème à l’ail. Selbstverständlich wurden alle Gemüsesorten bei ihren richtigen Namen genannt, weil man sie hier mit Du anspricht und mit Vornamen kennt, nicht wie unsereins, für die sie nur flüchtigere Bekannten sind. Es gab wieder Kaffee, wieder mit Sahne. Sahne wird so hoch geschätzt, dass neue geschlagen wird, wenn man sich zu viel genommen hat, stellte ich erfreut fest. Dazu gab es noch Schokoladenkuchen und Lebkuchen aus Aachen, das Printen heißt. Und Apfelbort mit Nüssen, das man wie selbstverständlich mit viel Butter aß. Liebe Maman, ich kann Dir sagen, nach so einem reichen Essen war ich nun wieder vollkommen glücklich und konnte Peter, Gundel und Lelio die Strapazen des Vormittags vollen Herzens verzeihen.

Nachmittags polierten Gundel und ich runde, gelbe Kürbisse für das Kirchenfest – eine Laterne nach der anderen fand ihren Platz in der grünen Kiste. Dann waren wir wieder am Feld, aber Gott hatte Erbarmen mit mir und schickte endlich den ordentlichen Regen, den ich hoffnungsvoll den ganzen Tag ersehnt hatte, so dass ich früher gehen durfte. Endlich Sitzen!

Aus dem Zug betrachtete ich die Wolken, die sich wie in einem Gemälde von Fragonard über den Himmel ausbreiteten. In Wien angekommen, beugte sich schon die Sichel des zunehmenden Mondes über die Station Roßauer Lände.

Kurz und gut: Bitte schick mir Geld für die ÖBB Vorteilskarte.

Liebe Grüße

Irina

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.